Liebe Silke,
dein Todestag jährt sich nun schon zum fünften Mal.
Seit du von uns gegangen bist, uns genommen wurdest, empfinden wir dein Fehlen, als ob wir eine lebenslange Haftstrafe auferlegt bekommen hätten, ohne Aussicht auf Begnadigung. Einzelhaft, in der jeder von uns in seiner eigenen Zelle aus Trauer sitzt, deren Wände uns permanent anzuschreien scheinen: „Warum?“. Am Tag, in der Nacht, in unseren Träumen, unerbittlich, folternd. Draußen gehen Menschen vorbei, nichtsahnend, ignorierend oder relativierend, was hinter den Mauern geschieht. Manchmal kommt jemand zu Besuch, manchmal treffen wir uns beim Freigang auf dem Hof. Dann wissen wir, dass wir nicht allein sind, das hilft durchzuhalten. Mit der Zeit haben wir uns in unseren Zellen eingerichtet, die Wände mit unseren Tränen bemalt und Bilder von Erinnerungen an dich aufgehängt.
Ab und an, teilweise überraschend, manchmal hart erarbeitet, bekommen wir Hafturlaub und es fühlt sich an, als wären wir frei. Doch dann ist da ein Lied, das du gerne gehört hast, ein Duft, den du gemocht hast, ein Wort, das öfter über deine Lippen kam, ein Mensch, der dir sehr ähnelt, eine Begebenheit, die wir mit dir in Verbindung bringen und schon finden wir uns in unserer Zelle wieder.
Wir haben uns damit abgefunden, dass wir lebenslänglich haben, ohne zu wissen, was wir verbrochen haben und dass eine Revision unmöglich ist. Aber wir warten und hoffen auf den Tag, an dem der Mensch kommt, der uns Hafterleichterung verschaffen kann, indem er die Wände in unseren Zellen zum Schweigen bringt.
Deine Familie